«Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!» Nicht nur Goethe quälte sich herum mit diesen zwei inneren Mächten, einer erhabenen Rationalität und dem Drang nach Sinnlichkeit. Magisch zieht sie uns an, die Polarität. Sie belebt, begeistert, regt an, regt auf, erhitzt, Urteile, Wertungen, Überzeugungen werden feilgeboten, Behauptungen und Wissen konkurrieren einander, Standpunkte lassen die Brust anschwellen…
Wie ein Mysterium erscheint das Dritte. Unscheinbar, zurückhaltend, leise, unaufdringlich, doch wach und präsent, aufrecht, keine Marionette. Zwischen den Polen nimmt es seinen Platz auf einer höchst verletzlichen, sensiblen Grenze ein. Wie ein Dirigent ist es jedem Musiker, Sänger gleich zugewandt. Mal heftig, mal fordernd, mal abwartend, mal streng, mal sanft… lockt er aus Geige, Harfe, Horn, Klavier, Kontrabass… das heraus was dem Werke dient. Ein ständiges Justieren der Töne, ein Ringen um Rhythmen und Harmonien, um Piano und Fortissimo. Ist das Werk im Einklang tanzt die Seele in höchster Freude.
Im einen Extrem der Polarität spielt der freiheitsliebende Rebell selbstbezogen, emotional, enthusiastisch, engagiert im Orchester was ihm gefällt. Fantasien, hohe Ideale, heben ihn in die schönen Gefilde des Geistigen ab. Der Boden der Realität schwindet unter den Füssen. Die Begeisterung kann in Übertreibungen, Übereifer, Fanatismus, Nationalismus ausarten. Dieses Extrem entfremdet von der materiellen Welt und trennt von dem was wir als Menschen als unser eigenes geistiges Wesen empfinden können.,
Im Extrem des anderen Pol herrschen Kontrolle und Macht. Der Machthungrige spielt im Orchester perfekt, mechanisch, berechnend, rational. Mit seinem materialistisch-maschinellen Denken reduziert sich sein Interesse auf die Materie, den Körper. Kühl weht dieser Geist durch die künstliche Intelligenz, den Transhumanismus, spiegelt sich in unserer aussergewöhnlichen Situation, wo der kranke Körper v.a. mit technischen und chemischen Mitteln behandelt wird und der Mensch in Statistiken verschwindet. Dieses Extrem bindet an die Materie. Seele-Geist, das Sinnliche, das Wesen des Mensch-seins werden inexistent.
In Gegensätzen liegen Potentiale verborgen. Solange wir glauben dass der eine Gegensatz z.B. Gesundheit, den anderen Krankheit ersetzen soll verpassen wir das Ursächliche. Krankheit kann eine gesunde Reaktion auf ein Leben im Ungleichgewicht sein. Folglich kann sich das Vollkommene in der Krankheit verbergen. Der Glaube, dass die wahre Wirklichkeit in einem der Pole liegt, dem sogenannt Guten, verschleiert das was aus dieser Sackgasse führen könnte. Dazu weiss Goethe weise:
Ich bin ein Teil von jener Kraft
Die stets das Böse will
Und stets das Gute schafft.
Werden diese sich gegenüberstehenden Kräfte bekämpft, gewertet oder verurteilt, können wir uns weder als Mensch noch unsere Kulturen noch den Kosmos verstehen. Potentiale verdampfen in einem grauen Nebel oder prallen an Mauern ab. DIe Lösung liegt im Verborgenen. Der Tribut: das Lossagen vom Gut- und Bös-Denken. Die Prägungen sind stark, jahrhundertealt, verknöchert in einer abbröckelnden Weltanschuung.
Nicht nur das darwinistische Denken, sondern auch die Kirche, die «Gott oben im Himmel» und den «Teufel unten in der Hölle» angesiedelt haben, hat mächtig zur Polarisierung und Trennung zwischen Mensch und Geist/Gott beigetragen. Da wird ein Kampf zwischen einem guten und einem bösen Prinzip vorgegeben. Der einen Seite wird alles Gute zugeschrieben, der anderen alles Böse. Wenn Gott/Geist das Gute sein soll, und dabei mit dem guten Pol identifiziert wird, dann wird Gott/Geist irregeleitet, wird abgeschafft. Das geistig Ursächliche wird im Polaren zum Verschwinden gebracht. Geist, die Ursache von allem schliesst jedoch nichts aus, ist neutral, steht über dem Polaren. Also kann er nicht in einem Pol gefunden werden.

Das Polare spielt sich in der äusseren, sinnlichen Welt ab. Das Einende, das Dritte finden wir im Unsichtbaren der inneren Welt. In jedem Menschen spiegelt sich Geist, das Ursächliche als die Kraft des «Ich-Bin»-Bewusstseins. Damit sind wir selbst diese Mitte, ein Angelpunkt, die Nabe im Rad, das Auge im Zyklon. Die Mitte ist neutral, still, friedlich. In ihr liegt die Fähigkeit urteils- und wertefrei die Potentiale, in einem ständig ausbalancierenden Austausch aus den sich widerstreitenden Kräften herauszuholen und sie in ein dynamisch-kreatives Gleichgewicht zu bringen und zu halten. Dieses Vereinen, dieses Ausbalancieren von Gegensätzen ist uns Menschen vorbehalten. Wir sind es, die den Waagebalken im Gleichgewicht halten. Mit dieser Mittelpunkt-Erfahrung erleben wir bewusst die Schwelle zwischen der sinnlichen, äusseren und der geistigen, inneren Welt. Wir erfahren wie die Macht in uns selbst liegt, mitzuwirken am Befrieden und HIneinwachsen ins Mensch-sein, in die Mensch-werdung. Ein unausweichlicher Friede, diese Mitte!
Der Weg geht mittendurch. Damit dieser sicht- und erlebbar wird, lädt uns das Leben ein, im Austausch zwischen Übermut und Feigheit, Angst und Mut, Gier und Teilen, Überheblichkeit und Selbstaufgabe, Sympathie und Antipathie, Verschwendung und Geiz, den eigenen Bedürfnissen und denen anderer, ein dynamisch-bewegtes Gleichgewicht zu finden. Es geht nicht um Gut oder Böse. Zutiefst wollen die Potentiale, die in den widerstrebenden Kräften verborgen liegen herausdestilliert, respektiert, gebraucht, wertgeschätzt werden. Fragen wir uns in einem lichten Moment, welche Informationen blenden wir aus, um vielleicht unsere Sichtweisen und vielleicht auch unser Sicherheitsbedürfnis aufrechtzuerhalten, wenn wir im Widerstand Andersdenkenden gegenüber sind? Was für ein Ringen um einen lebendigen Gleichgewichtszustand, dieser «ach, zwei Seelen in meiner Brust»! Pole durchdringen einander. Sie stehen gleichwertig in der Schöpfung, wollen ihren Beitrag geben, wollen Er-Lösung in einem dynamischen Gleichgewicht finden.
Das Tao/der Weg ist vollkommen und vollständig wie der endlose Raum
Nichts fehlt, nichts ist überflüssig,
doch weil der Geist nicht aufhört zu unterscheiden,
bleibt der Weg dunkel.
Lao Tse
Reise in ein unbekanntes Land.
Stelle dir eine Person (oder Situation) vor, die dir unsympathisch, die anderer Meinung ist oder….. Wähle eine leichte Situation. Die Reise ist anspruchsvoll. Wie einem unbekannten Land, so wollen wir unseren Geist und Herz der Welt des Anderen öffnen, wollen ihn in seinem Wesen, seinen Motivationen und Potentialen erkennen. Wir wollen verstehen. Bei diesem heiklen Prozess geht es auf keinen Fall darum, Unrechtes oder Bösartiges zu dulden, zu rechtfertigen oder gar einverstanden damit zu sein. Vielmehr respektieren wir, dass auch der Andere auf dem Weg ist und seine Erfahrungen auf seine Weise als Seele in dieser Zeit macht.
Du brauchst ein paar besondere Werkzeuge in dein Reisegepäck: erstes Paket: keine Wertungen, Urteile, Verurteilungen, Erklärungen. Zweites Paket: Interesse, Offenheit, Mitgefühl, Geduld, Abenteuerlust, Forschergeist, Zeuge sein. Beide Pakete gelten für dich wie für den anderen.
Übung/Meditation: Wie ein guter Freund begleitet dich dein Atem in deine innere Stille, ins Zentrum deines «Ich Bin». Dein „Ich Bin“ gleicht dem Auge im Zyklon. Unabhängig, frei von stürmenden Gedanken, Emotionen hält es das Gleichgewicht. Öffne dich der Stille, dem Frieden deines Kraftzentrums. Immer tiefer entfaltet es sich in dir, gehst du darin auf. Du selbst bist dieses Zentrum, diese Stille, dieser Friede. Empfinde. Verweile einen Moment in diesem unerschütterlichen Kraftfeld.
Wende dich nun dem Zentrum dieser Person zu. Nomm wahr, dass auch in ihr der „Ich Bin“-Funke, dieses Auge im Zyklon, dieses unzerstörbare Zentrum der Stille, des Friedens leuchtet. Anerkenne diesen ewig leuchtenden Funken in dir wie im Anderen.
Vielleicht möchtest du auf unauffällige Weise etwas für die Person tun, das sie auf ihrem Weg unterstützt.
Verbinde dich wieder mit deinem Freund Atem, bewege und berühre deinen Körper und komm in deinen Alltag zurück.
Liebe Katharina,
Diese Meditation ist wunderschön.
Werde sie im Geiste mit meiner Tochter machen.
Vielen Dank!
Liebe Katharina, vielen herzlichen Dank für die berührenden und wahren Worte, für das Erinnern an unsere Dualität, die Kämpfe in uns und doch dann das starke Sehnen nach dem “ All.. Eins…Sein“….. Ganz liebe herzliche Umarmung, Katharina