Wenn es um Freiheit geht, durchlaufen wir als einzelner Mensch den gleichen Prozess wie die Menschheit als Ganzes. An der Grenze zwischen dem Land der Freiheit und dem Land, das uns im Gewohnten ruhen lässt, erfahren wir in unserer Zeit ein immer stärkeres Seilziehen. Je bewusster wir sind, desto mehr fordert uns die Ehrlichkeit, desto einschneidender oder schmerzhafter können not-wendende Entscheidungen sein. Wir geraten in einen Zwiespalt, einen inneren Kampf, der uns zu zerreissen droht. Besonders spüren wir das wenn unsere Loyalität gefordert ist: bleibe ich mir treu, meinen Werten, meiner Seele oder entspreche ich den Erwartungen meiner Familie, Arbeitskollegen, Partei, Gesellschaft, Kultur, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Einkommens- oder Bildungsklasse?
Entscheidungen können uns menschlich-seelisch an die Grenze der Einsamkeit, des Zweifels, der Verzweiflung, der Ohnmacht, des Ungenügens, der Angst vor Verlust… bringen, auch wenn das Innere, ohne dass es Erklärungen oder einen wissenschaftlichen Beweis braucht, weiss, was richtig ist.
Die grosse Herausforderung in unserer widersprüchlichen und verwirrenden Zeit ist die Erkenntnis, dass ein Entscheidungskampf zwischen inneren und äusseren Weltbildern stattfindet. Wir sind gut beraten, das was ist wie es ist, als Basis unseres Lebens anzunehmen. Das hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. Vielmehr ermöglicht uns diese Haltung klar zu sehen, ohne werten oder verurteilen zu müssen. Die eigenen Werte werden erkannt und wahrgenommen. Das Geschenk der im Menschen angelegten Fähigkeit eine Sache beurteilen zu können, ohne dafür Experte sein zu müssen, macht unabhängig und frei. Als neutrale Zeugen des äusseren wie des inneren Geschehens können wir gelassen, präsent und mitfühlend beobachten. Wir müssen uns nicht hin- und herreissen und verwirren lassen, sei es von den eigenen emotionalen und gedanklichen Beben, sei es von den Stürmen und Tornados die in der Medienlandschaft ablaufen. Die sensationell aufgemachten, zurechtgeschnittenen Informationen manövrieren uns Menschen in emotionale Sturzflüge von Angst, Verunsicherung, Ablenkung und in materialistische Wertesysteme die Trennung zwischen Menschen und Völkern verursachen. Alle kennen wir den Sog dieser Informationswelt, dessen Wahrheits/Unwahrheitsgehalt wir erkennen und doch erliegen. Die Geschichten sind immer die gleichen, nur die Orte, die Menschen, die Länder wechseln. Erstaunlich wie schnell wir vergessen, was gestern, was vor einem Monat die Welt erschütterte, wenn heute ein anderes Ereignis, wie der Brand von «Notre Dame» in Paris die Schlagzeilen füllt.

Steigen wir aus diesem Schüttelbecher, der ein Mix aus Lust und Frust, aus Verwirrung und Manipulation in Richtung Freiheitsentzug ist, aus.
Der Brand von Notre Dame rührt an diese innere Auseinandersetzung und ruft zu Reflektion, zu Klarheit und zu Ehrlichkeit auf.

Was geschieht hier wirklich? Was brennt? (Ich gehe hier nicht darauf ein, ob es nun Brandstiftung, politisches Kalkül, irgendeine verschwörungstheoretische Hypothese, ein Zufall, eine Unachtsamkeit ist, war. Das sollen die Untersuchungen herausfinden. Spekulationen suchen Schuldige und erhitzen die Gemüter. Das hält davon ab, zu versuchen, ein Geschehen ganzheitlich zu betrachten.)
Notre Dame, ein kulturhistorisches Monument aus dem Mittelalter, das von grösster Bedeutung für das Christentum ist, brennt. Entsetzen, Trauer, Ohnmacht, Lähmung, Schock…
In der ersten Rede des französischen Präsidenten war das Wort «zusammenhalten» zentral. Und wie auf Befehl oder unter Schock, halten die Franzosen unter Anteilnahme der ganzen Welt zusammen. Die Gelbwesten und andere tiefgreifende politisch-menschliche Probleme, die die Nation zu spalten drohen, sind weg vom Tisch. Die Nation hält zusammen, die Menschen werden versöhnlich, die brennende Kathedrale wird zum Symbol der Vereinigung. Das was trennt ist vergessen.
Die wirklich essenziellen, tiefliegenden Bedürfnisse der Menschen nach «Einheit, Freiheit, Brüderlichkeit» sind mit einem äusseren Ereignis besänftigt worden – nicht aber erfüllt.
Innert Tagen wurden für den Wiederaufbau der Kirche Millionen, Milliarden gespendet. Es wird von materiellen, kulturhistorischen Werten, von christlichem Wahrzeichen gesprochen. So schnell als möglich soll der alte Zustand wiederhergestellt werden. Wiederaufbauen heisst, das Alte wieder restaurieren. Das Mittelalter aber ist vorbei.

Wem käme es in den Sinn die Akropolis, das Kolosseum in Rom und andere Jahrtausende, Jahrhunderte alte wertvolle Zeugen jener Zeit wiederaufzubauen? Wäre es nicht ehrlich, sich in Respekt und Dankbarkeit an das Vergangene, von diesem Monument zu verabschieden, es so stehen zu lassen und sich ganz dem Hier und Jetzt zuzuwenden? Und das Geld, das in Windeseile zur Verfügung steht, noch zu erhöhen, damit es eingesetzt werden kann um z.B. unsere Umweltverbrechen auszugleichen, um die Ernährung aller Menschen zu gewährleisten, um allen Kindern, ein würdevolles Leben in dem sie sich in ihre eigene Art entfalten können, zu garantieren, um an der Freiheit und Vereinigung der Menschheit zu arbeiten, einer Menschheit, die im Einklang mit Erde/Materie und Geist/Seele wirkt…
Wo sind die Anwälte des Hirn-, Herz- und Handbewegenden Geistes, aus dem dieses Monument geschaffen wurde? Auch wenn erwähnt wird, dass es eines der wichtigsten Wahrzeichen des Christentums ist, so spricht niemand vom Geist des Christus, schon gar nicht vom weiblichen Geist der «Notre Dame». Reduziert auf die materielle, kulturhistorische und politische Ebene wird das geistige Erbe ausgeblendet. Nicht zu übersehen, dass das dem materialistisch motivierten Weltgeist in die Hände spielt, der sich heute rücksichtslos und kalt in seine zerstörerischen Extreme ausbreitet. Natürlich fühlen sich nicht nur christliche Organisationen, Institutionen, Menschen an ihren Glauben erinnert, werden auf einer Ebene berührt, die erschüttert. Was aber erschüttert wirklich? Könnte es im Tiefsten die – in der laufenden Debatte nicht erwähnte – verlorene Verbindung von Mensch und Geist sein?

Was wird hier restauriert, wiederaufgebaut? Ist es das Heiligtum des Christusgeistes oder eine Kirche, die reine Materie ist?  Ist es das Christentum, das Christus vertrat und verkörperte – wir sprechen hier nicht von Religion und kirchlichen Institutionen – das Christus-Weltbild der Einheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Liebe. Ist es dieses weltbewegende Menschenbild mit seelisch-geistigen Werten und Prinzipien, die vorgesehen sind, dass sie sich in jedem Menschen inkarnieren und auf der Erde wirken? Hochpolitisch, hochtransformierend, hochaktuell, vereinend, befriedend und befreiend. Oder ist es ein Christentum, das nur noch dogmatisch, veraltet ist, ein Christentum, das die Menschen weg von Christus führt?
Jesus Christus, als der Sohn Gottes, wie er bei den Christen genannt wird, hat vorgelebt, wie das Menschsein in der Schöpfung vorgesehen ist, wie der Mensch auserkoren ist, ein «Geist der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe» zu werden.
Und was passiert mit der weiblichen Kraft dieser «Notre Dame»? Ihr, der in Frankreich dem Sternbild Jungfrau folgend, im Mittelalter irdische Wohnstätten gebaut wurden? Das Weiblich brennt. Das Weibliche, als das Prinzip, das in jedem Menschen angelegt ist, in Mann und Frau. Überall spüren wir, wie es diese weibliche Kraft ist, die heute so unwahrscheinlich tatkräftig – oft im Stillen, im Unsichtbaren – an der neuen Welt, dem Weltbild des Christus, dem Weltbild der Freiheit wirkt.
Machen wir uns klar, dass der Christusimpuls nicht den Menschen vorbehalten ist, die sich Christen nennen. Er ist ein Geschenk an die ganze Menschheit, unabhängig von Kultur oder Religion. Die ganze Menschheit ist auserwählt in die Wahrheit zu erwachen, in Freiheit und Liebe zu leben. So wie niemand bezweifelt, dass die Erkenntnis von Galileo Galilei – dass die Erde keine Scheibe ist, sondern eine fastrunde Kugel – für alle Menschen Gültigkeit hatte und für alle ein komplett neues Weltbild brachte, so ist es nicht anders mit dem Christusimpuls des freien und liebenden Menschen. Dieses neue Menschen- und Weltbild der Freiheit gilt für alle.

Die innere Bewegung, die sich zunehmend in einzelnen Menschen wie in Gruppen, in sichtbaren und unsichtbaren Bewegungen und Initiativen in der äusseren Welt zu wurzeln beginnt, ebnet dieser geistig beseelten Menschheit den Boden. Das Seilziehen bewegt sich zwischen einem ver-chipten, mechanisierten, ferngesteuerten und an die Materie versklavten Menschen, und dem seelisch-geistig bewussten, eigenständig-denkenden und urteilenden Menschen, einer Menschheit, die in die Wahrheit, in die Freiheit und in die Liebe erwacht.
Alle sind wir würdig, dass wir «eingehen unter diesem Dach der Freiheit». Das entwürdigende Bild des Menschen als Sünder, als der Unwürdige, als der Unwissende hat uns kleingehalten und vom Seelisch-Geistigen, vom wirklichen Christusimpuls, von diesem Gnadenakt an die Menschheit, entfernt. Wir wurden und werden in die Irre geführt. Heute spricht man von fakenews.

Bei den Franzosen passiert etwas, das nicht nur die Franzosen betrifft. Es brennt auf der ganzen Welt. Wir dürfen hinschauen, was wir beitragen können bei uns selbst als Individuen, als Familienmitglied, als Arbeitnehmer, als Lehrer, als Chef, als Freund, als Nachbar… In diesem Brand und all den anderen Bränden, den eigenen wie den weltweiten, liegt eine grosse Chance der Erneuerung.

Was für ein Feuer brennt in dir?

·         Ist es das Feuer der Erneuerung?

·         Ist es das Feuer der Transformation?

·         Ist es das lösende, erlösende Feuer?

·         Ist es das Feuer der Liebe?

·         Ist es das Befreiungsfeuer?

·         Ist es das Licht der Wahrheit, der Freiheit, der Liebe?

Schenke dir von deiner kostbaren Zeit einen Augenblick des Innehaltens, der Stille. Erlaube dir, dich deinem inneren Feuer, dem Licht in dir zu öffnen. Ich wünsche dir Mut und Vertrauen, der Geschichte deines Feuers zuzuhören und ihm zu folgen.
 

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