Wieviel Geduld, Wissen und Hoffnung doch in diesem Sprichwort steckt, wenn es darum geht, etwas zu verändern, zu erkennen, reifen und bewusst werden zu lassen. «Alles hat seine Weile» ist eine andere Volksweisheit, die uns gelassen sein lässt, wenn ein Jobwechsel, ein Umzug, eine Schwangerschaft, eine Beförderung, eine Einsicht, eine Trennung, ein «es tut mir leid», ansteht. Es sind Prozesse die nicht nur Veränderungen, sondern auch Bewusstsein bringen. Bewusstseinsprozesse dauern im menschlichen Leben Tage, Wochen, Jahre, Jahrzehnte; in der Menschheit sind es Generationen, Jahrhunderte und Jahrtausende. Nachfolgend betrachten wir, wie das Bewusstsein für Frieden Schritt für Schritt über Jahrtausende geschult wurde.

Beginnen wir mit dem bekannten «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Das Bewusstsein für die gleichwertige Wiedergutmachung eines Unrechts wird geweckt. Das muss nicht ein Auge oder ein Zahn sein. Denn ein blindes Auge oder ein kaputter Zahn sind nicht gleichwertig. Heute sprechen wir von Schadenersatz.

Oft falsch verstanden, wird diese Aussage als Rechtfertigung für Rache missbraucht. Aus langer Erfahrung wissen wir, dass das eine Gewaltspirale erzeugt, die nie zu Ende kommt. Racheakte kennen wir nicht nur von gewissen Kulturen. Auch in uns kann sich dieser Rächer rühren. Wenn wir z.B. verlassen, nicht wahrgenommen, blossgestellt, verletzt wurden, sagt dann nicht einer in uns etwa: «Warte nur, dir zeige ich es schon noch!» Und wenn uns ganz grosses Leid widerfährt, wenn eines unserer Kinder überfahren oder gemobbt wird, dann ist dieses Auge um Auge-Denken schnell zur Stelle. Wer ist schon gefeit davon? Nun stellen uns diese kleinen und grossen Rachefeldzüge auf die gleiche Ebene wie den Täter, sie machen uns ebenfalls zu Tätern. Rache ist nicht süss. Sie ist Gift. Sie vernebelt unseren Geist und raubt uns die Fähigkeit neue Wege zu gehen und das Verletzte wieder zu heilen.

Im weiteren Prozess geschieht ein grosser Bewusstwerdungsschritt. Wir finden ihn im Satz: «Wenn dich einer auf die Wange schlägt, dann halt ihm die andere hin». Das heisst nicht, sich schlagen zu lassen wie ein duldsames, unterwürfiges Schaf, das noch glaubt moralisch gut zu handeln, nur weil es nicht zurückschlägt. Dem Täter würde lediglich Gelegenheit gegeben, nochmals negativ zu handeln. Dadurch machen wir uns verantwortlich für das weiter entstehende Leid. Der/die Geschlagene (ob mit Worten, Ausschluss, Abwertungen oder physisch) bietet die andere Wange an im Sinn von: ich stehe zu mir, ich schlage nicht zurück. Ich biete dir die «Wange des Verzeihens», ich biete etwas anderes als Gewalt an, ich will verstehen, was dich verärgert, verletzt hat, was dein Bedürfnisse ist. Lass uns das zusammen regeln.

Das Ganze will gesehen und verstanden werden, die linke wie die rechte Seite. Was wissen wir, weshalb ein Mensch zuschlägt, was wissen wir, warum wir mit ihm zusammentreffen? Einsicht und Mitgefühl lehren uns, gewaltlosen Widerstand zu üben. Nicht nur Ghandi, Nelson Mandela, Dalai Lama sind Beispiele dafür. Es sind auch die Vielen die die «Gewaltfreie Kommunikation» üben, die im Alltag die Hand zum Verzeihen bieten, oder die in einer Mediation versöhnliche Lösungen finden.

Im weiteren Prozess der Bewusstwerdung begegnen wir dem Satz: Liebet eure Feinde und Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Eine grosse Herausforderung, wenn an die Liebe appelliert wird. Die Erkenntnis wächst, dass wir alle auf unsere Art im Leben unterwegs sind, dass wir alle Frieden und Liebe möchten, dass wir Schmerzen, Leiden, Zurückweisungen… erfahren haben, dass wir alle geistige Wesen sind, die irdische Erfahrungen machen.

In jedem von uns gibt es einen stillen Ort des Friedens. Ein Ort, der ungeprägt ist von unseren menschlichen Erfahrungen und Meinungen. Von dort aus sind wir fähig, das was in unserem Leben und in der Welt geschieht als Zeuge vorbehaltlos zu beobachten. Der Zeuge ist neutral, er nimmt nur wahr was ist wie es ist. Er ist fähig es anzunehmen, zu respektieren, ohne mit allem einverstanden sein zu müsse.

Und dann finden wir uns mitten in einer Weltlage mit Führerpersönlichkeiten, die sich selbst nicht führen können, die Chaos, Verunsicherung und Gewalt in der Welt verbreiten. Bieten sie uns nicht die Gelegenheit, in uns selbst Ordnung zu schaffen, in uns selbst das Gleichgewicht herzustellen? Eine Herausforderung, uns selbst mit unseren Unzulänglichkeiten bedingungslos zu lieben, genauso wie auch sie in unsere Herzen zu schliessen. Spürst du, wie darin deine Macht und Möglichkeit verborgen liegt, dem Frieden Schubkraft zu geben?

Der weitere Prozess hat uns heute an die Bewusstseinsschwelle geführt, wo die bekannte Aussage «Der Vater und ich sind eins» empfindbare Realität geworden ist. Hier treffen sich Weisheiten aus den alten Schriften mit den Erkenntnissen neuerer Wissenschaften v.a. aus der Quantenphysik, die (ehrfürchtig) belegt, dass alles Leben miteinander untrennbar verbunden ist und miteinander kommuniziert, dass «Alles eins ist». Wir sind von derselben Quelle, vom gleichen Geist. In der Essenz sind wir unterschiedslos. «In dir erkenne ich mich, in mir schaue ich dich», also kann ich nicht dein Feind, du nicht mein Feind sein. In der klaren und gleichzeitig verletzlichen Sanftheit des Herzens strahlt das Gesetz der Liebe. Es wirkt unaufhörlich als Bindeglied zwischen allen Menschen und Schöpfungen.

Das befreit aus den trennenden Identifikationen der Blutsverwandtschaft, der Sprach- Religions-, Kultur-, Landes-, Einkommens-, Bildungs-, Club-, Labelzugehörigkeiten…

Der Prozess der Befriedung und des Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Menschen, die Allverbundenheit mit der gesamten Schöpfung, hat vor Ewigkeiten begonnen. Der stete Bewusstseinstropfen durchdringt heute den harten Fels der Unbewusstheit.

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Für den Alltag: Spiele, experimentiere mit den verschiedenen Bewusstseinsebenen.

In welchen Situationen urteilst du, wertest, fühlst dich besser als andere, willst dich rächen?

Was ermöglicht dir mitfühlend, verstehend, verzeihend zu sein?

Wann kannst du neutral-beobachtend sein, annehmen was ist wie es ist?

Was brauchst du, damit du das beglückende Gefühl der Allverbundenheit, des zuhause-seins empfindest?

Nimm nur wahr, ohne zu urteilen und freue dich an deinen Erkenntnissen. Spüre die Freiheit, entscheiden zu können, was für Gedanken du denken, was für Gefühle du ausstrahlen, wie du handeln möchtest. Wie möchtest du deine kleine und wie unsere grosse Welt mitprägen?